Neue urbane Agrarproduktion im Quartier: Mittendrin – und doch nicht dabei

Autoren: Leon Zens & Olaf Schnur

Landwirtschaft in der Stadt? Klingt zunächst paradox, aber neue Formen von „Urban Agriculture“ haben gerade Hochkonjunktur. Allein in Berlin gibt es mittlerweile unzählige Projekte, die sich der Nahrungsmittelproduktion innerhalb der Stadt widmen – von Gemeinschaftsgärten über Bienenstöcke bis zu Aquaponik, bei der Fisch- und Pflanzenzucht in einem geschlossenen Kreislauf miteinander verbunden werden.

Soziale Gerechtigkeit und Community Empowerment

Es lohnt sich, einmal in die jüngere Geschichte des „Stadtackerns“ zu schauen: Bei Urban Agriculture im Globalen Norden ging es bisher weniger um die generelle Steigerung der Lebensmittelproduktion, als um Ideen der marktfernen Selbstversorgung, um Umweltschutz, um den Community-Gedanken und um soziale Gerechtigkeit. Begonnen hat die Bewegung, wie wir sie kennen, in den 1970er-Jahren in den von der Deindustrialisierung und dem Strukturwandel schwer getroffenen Großstädten der USA (Interview mit PD Dr. Heide Hoffmann, Forscherin am Albrecht Daniel Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften der HU Berlin). Im Vordergrund stand die Vision einer radikalen Alternative zur kapitalistischen, globalen Lebensmittelindustrie. Als Reaktion auf den Verfall der Innenstädte und den Abbau sozialer Leistungen fingen die Menschen in benachteiligten Quartieren an, ihre eigenen Initiativen zu gründen, um die Lebensmittelunsicherheit zu bekämpfen. Urban Agriculture wurde zur praktischen Plattform für ein Recht auf Lebensmittel und zum Symbol für Community Empowerment. Heruntergekommenen Quartieren mit hohen Leerstandsquoten wurde durch Urban Agriculture in Form von Bottom-Up-Initiativen neues Leben eingehaucht, die Menschen in sogenannten Food Deserts hatten wieder Zugang zu lokalen, frischeren und hochwertigeren Lebensmitteln und sogar die Kriminalitätsrate sank.

Gerade in den letzten Jahren gab es auch in Europa einen wahren Boom von Urban-Agriculture-Projekten, die in Stadtquartieren einerseits frische und gesunde Lebensmittel lokal produzieren und andererseits soziale Räume schaffen und damit das Miteinander der Bewohner*innen fördern (z.B. der Gemeinschaftsgarten Allmende Kontor auf dem Tempelhofer Feld in Berlin oder der Quartiergarten Hard in Zürich). Gemeinwohlorientierte Projekte dieser Art funktionieren ganz im Sinne der Neuen Leipzig Charta – sie tragen zu einer ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen Stadtentwicklung bei.

Neu: Viel Gemüse, wenig Quadratmeter

Doch die Flächen für solche Projekte sind knapp. Außerdem lässt sich mit derlei Gartenbau nur wenig Geld verdienen. Eine Technik, die hier Abhilfe zu versprechen scheint – viel Grün auf wenig Fläche mit Profit – ist das sogenannte Vertical Farming: Dabei werden die Pflanzen nicht mehr nebeneinander in Beeten, sondern übereinander in Gewächshäusern aufgezogen – ohne Erde. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Startups, die damit werben, durch Vertical Farming lokal, nachhaltig und „grün“ Lebensmittel zu produzieren. Die meisten dieser modernen Vorzeigeprojekte haben sich zwar im Windschatten der ursprünglichen Food-Justice-Bewegung entwickelt, haben jedoch kaum noch etwas mit ihr zu tun.

Ein Beispiel: Während der Pandemie hat die Berliner Firma Infarm nach eigenen Angaben ganze 170 Millionen US-Dollar von internationalen Investoren erhalten. Damit möchte Infarm zum weltweit größten Vertical-Farming-Netzwerk aufsteigen. Die Firma wirbt mit dem Slogan „Zurück zu den Wurzeln“, doch mit Landwirtschaft im ursprünglichen Sinne hat das Unternehmen nichts zu tun. In vollautomatisierten Gewächshäusern werden die Pflanzen zu jeder Tages- und Nachtzeit von Sensoren überwacht, die das Wachstum steuern und die Versorgung der Pflanzen mit Wasser, Licht und Nährstoffen kontrollieren. Sämtliche Daten werden an eine Cloud-basierte Zentrale übermittelt, die ständig lernt und das Wachstum optimiert. Infarm kooperiert mittlerweile mit mehreren großen deutschen Supermärkten, wie z.B. Edeka und Aldi Süd. In deren Filialen können die hochmodernen Gewächshäuser von den Kund*innen bestaunt werden.

Beeindruckend ist, dass diese Art der vollautomatischen Etagen-Pflanzenzucht hohe Erträge einbringt. Als weniger beindruckend stellt sich jedoch heraus: Sie schafft so gut wie keinen Mehrwert im Quartier. Es entstehen kaum Arbeitsplätze und schon gar keine für die Menschen vor Ort, sondern viel eher für internationale Spezialist*innen aus den Bereichen IT, Ingenieurs- und Naturwissenschaften und Marketing. „Lokal“ ist Vertical Farming nur in dem Sinne, dass die Lebensmittel lokal (aber eben automatisch) produziert werden. Im Gegensatz zur Food-Justice-Bewegung leisten vertikale Farmen, wie die von Infarm, keinen Beitrag zur gerechteren Versorgung der Kiezbewohner*innen mit gesunden, frischen Lebensmitteln: Denn erstens werden überwiegend einfach zu züchtende Kräuter- und Salatsorten produziert, die sich nicht für eine vielseitige Ernährung eignen, zweitens werden diese Produkte am Ende auch nur im Discounter vermarktet und vom Einzelhandel und von Restaurants – mit Labeln wie „frisch“, „nachhaltig“ und „lokal“ versehen – teuer verkauft: „Tiny tomatoes could mean big profits for urban agriculture“, wie es in einem  Beitrag treffend heißt. Dass die erzielten Gewinne nicht vor Ort in lokale Wertschöpfungsketten einfließen, ist auch nicht überraschend: Wie das Beispiel von Infarm zeigt, gehen die Gewinne an internationale Venture-Capital-Gesellschaften oder Investmentholdings, deren Namen Hanaco, TriplePoint Capital oder Astanor Ventures Verbraucher*innen kaum etwas sagen dürften. Dass dabei am Ende noch nicht einmal bessere Öko-Standards etabliert werden, macht aus der Innovation des Vertical Farmings – zumindest in dieser Form – eine bloße Hightech-basierte Industrialisierung, Automatisierung und Standardisierung der Lebensmittelproduktion. Der CO2-Fußabdruck von Salat aus vertikalen Farmen ist jedenfalls aufgrund des enormen Energieverbrauchs der Anlagen sogar deutlich höher als der von herkömmlich erzeugtem Salat.

The winner takes it all

Urban-Agriculture-Investments, wie sie hier am Beispiel vertikaler Hightech-Farmen beschrieben wurden, sind also nicht im Quartier bzw. in der lokalen Gemeinde verankert. Sie sind kein Teil des sozialen Miteinanders, keine Gemeinschaftsprojekte, in denen Quartiersbewohner*innen zusammenkommen und gemeinsam gärtnern können. Im Gegenteil, sie können den Konflikt um öffentlichen Raum sogar verschärfen, indem sie die Infrastruktur und die Flächen vor Ort sehr stark nutzen, aber dem Quartier kaum etwas zurückgeben. Damit schließen sie sich an eine Reihe von anderen Unternehmen an, die öffentlichen Raum, vielfach ohne die Zustimmung der Anwohner*innen, für ihre Geschäftsinteressen privatisieren (z.B. Lieferdienste wie Gorillas oder diverse E-Scooter- und Bike-Sharing-Dienste). Zwar mag es hier um grünen Salat und buntes Gemüse gehen, aber auch Vertical-Farming-Unternehmen wie Infarm arbeiten nach dem „Winner takes it all“-Geschäftsmodell: Schnell wachsen, expandieren und ein lokales Monopol aufbauen. Wenn die Preise für die Produkte, Dienstleistungen oder auch die Flächen dann anziehen, sind andere, nachhaltigere Strukturen, wie z.B. lokale Geschäfte, Gastronomie oder in unserem Fallbeispiel der Gemeinschaftsgarten, vielleicht schon verdrängt worden. Natürlich ziehen vertikale Farmen mit ihrer Science-Fiction-Optik das Interesse der Öffentlichkeit auf sich. Vielleicht können sie damit benachteiligten Quartieren sogar noch zu einem fortschrittlichen, vordergründig „grünen“ Image verhelfen. Doch durchdekliniert heißt das: Am Ende sind nachhaltige Effekte für das Quartier rar und Negativeffekte, wie etwa Gentrifizierungsprozesse, keineswegs auszuschließen.

Parasiten und Symbionten

Insgesamt kann also eine fast schon „parasitäre“ Beziehung zwischen derartigen Urban-Farming-Startups und dem Quartier konstatiert werden. Sie verbrauchen knappe Ressourcen, schaffen kaum lokalen Mehrwert und sind nicht ortsgebunden: Wenn sich das globale Investment andernorts mehr lohnt, ist es mit der lokalen Verbundenheit in der Regel nicht mehr weit her – im Quartier bleibt verbrannte Erde zurück.

Was aber wäre nötig, damit aus einer solchen einseitigen Beziehung eine Beziehung mit wechselseitigem Nutzen wird? Vertikale Farmen haben durchaus das Potenzial, ihren Quartieren etwas zurückzugeben. Allerdings wäre dafür ein Wirtschaften jenseits von Profitmaximierung notwendig. Die Firmen müssten sich stärker am Gemeinwohl orientieren und unabhängig von globalem Risikokapital arbeiten. Gemeinwohlorientierte Immobilienentwicklung könnte hier ein Stichwort sein: Vertical Farming oder weniger hochtechnisierte Varianten wären sicherlich auch als Sozialunternehmen oder als Community-basierte Projekte vorstellbar. Als positives Beispiel für urbane Lebensmittelproduktion kann die Berliner Brauerei „Quartiermeister“ dienen: Für jeden verkauften Liter Bier werden 10 Cent an soziale Projekte in der Nachbarschaft gespendet, und zwar dort, wo das Bier getrunken wird. Projekte können sich für die Förderung bewerben, wenn sie lokal sind, also vor Ort ihre Wirkungsstätte haben, und sich für gesellschaftlichen Mehrwert einsetzen. Die Konsument*innen können über das Internet mitentscheiden, welche Projekte jeweils gefördert werden. In Berlin wurde von Quartiermeister auch schon einmal ein Urban-Gardening-Projekt am Holzmarkt gefördert, das besonders auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung sowie Geflüchteten abzielt. So fließen die Gewinne nicht in die Taschen von internationalen Investoren bzw. Anteilseigner*innen, sondern zurück in Quartiersprojekte, von denen alle profitieren.

 

 

Foto: © Leon Zens

 

 

Dieses Posting entstand aus einer Kooperation des AK Quartiersforschung mit der vhw-Denkwerkstatt Quartier.

Ein Gedanke zu „Neue urbane Agrarproduktion im Quartier: Mittendrin – und doch nicht dabei

  1. Jonathan Antworten

    Sehr informativ, kritisch und gemeinwohl-orientiert. Herzlichen Dank für diesen tollen Artikel. Jetzt hoffe ich nur, dass jemand bei Infarm diesen Artikel zu lesen bekommt und das Geschäftsmodell ändert.

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