Urban Citizenship: Neue Vision gesellschaftlicher Teilhabe?

Autor: Leon Zens

Als die Berliner*innen im Mai 2014 im Rahmen des Volksentscheides Tempelhofer Feld über die Zukunft der Freifläche, auf der sich einst der Flughafen Tempelhof befand, abstimmen durften, waren sehr viele Menschen nicht stimmberechtigt: nämlich die ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Der Autor dieses Textes durfte abstimmen, obwohl er in Pankow wohnt und nur sehr selten Zeit auf dem Feld verbringt, während manche Nachbar*innen des Geländes, die schon seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten, in ihrem Quartier wohnen und dort fest verwurzelt sind, nicht über dessen Gestaltung mitbestimmen durften. Im September 2021 kam es erneut zu einem Volksentscheid in der Hauptstadt. Diesmal wurde über die Enteignung und Vergesellschaftung privater Wohnungsunternehmen abgestimmt, um den rasant steigenden Mieten zu begegnen. Mit deutlicher Mehrheit stimmten die Berliner*innen für eine Vergesellschaftung. Wobei, halt – wieder durften nicht alle Berliner*innen mitentscheiden; nur die mit deutscher Staatsbürgerschaft. Das mutet besonders absurd an, weil gerade Menschen mit Migrationshintergrund häufig Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt erfahren.

Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen zeigt sich alle fünf Jahre das gleiche Bild. Auch hier dürfen hunderttausende Menschen aufgrund fehlender deutscher bzw. europäischer Staatsbürgerschaft nicht wählen. Nach Zahlen des Tagesspiegels waren bei den letzten Wahlen 486 Tsd. Einwohner*innen Berlins nicht zur Wahl des Abgeordnetenhauses berechtigt, da sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Das entspricht 13,2 Prozent der Bevölkerung Berlins. Für die zukünftige Hauptstadtregierung ergibt sich daraus ein akutes Legitimationsproblem. Was aber, wenn das Recht, bei Kommunalwahlen abzustimmen, nicht an Nationalität, Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsstatus geknüpft wäre, sondern einzig daran, ob man an dem jeweiligen Ort seinen Lebensmittelpunkt hat? Warum sollte beispielsweise eine türkische Staatsbürgerin, die seit vielen Jahren in Berlin zuhause ist, hier Familie hat und deren Kinder hier in die Schule gehen, nicht mitentscheiden dürfen, wer ins AGH einzieht und dort ihre Interessen vertritt?

Tatsächlich werden diese und andere Fragen der demokratischen Teilhabe schon seit geraumer Zeit unter dem Stichwort Urban Citizenship („Stadtbürger*innenschaft“) verhandelt. Dabei geht es um den Status und die Rechte von Menschen, die in einer Stadt leben, insbesondere um ihren Zugang zu Grundversorgung, Beschäftigungsmöglichkeiten, Wohnraum, ÖPNV und öffentlichen Räumen, sowie um ihre Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen, und zwar unabhängig von nationalen Identitäten. Die Soziologin und Aktivistin Sarah Schillinger spricht von dem Versuch, „neue Visionen zu entwickeln, in denen Zugehörigkeit und soziale Rechte auf anderen Kriterien als der Nationalität und dem Aufenthaltsstatus beruhen: etwa dem Wohnort und Lebensmittelpunkt, der Teilhabe an der Gesellschaft und dem Eingebundensein in Communities und Nachbarschaften.“ (Schillinger 2018: 17-18).

Mehr als nur Wahlrecht

Die gesellschaftliche Gruppe, die in der Diskussion um Urban Citizenship meist als erstes genannt wird, sind Sans Papiers, also Menschen ohne Papiere, ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Was für sie noch viel schwerer wiegt als die Tatsache, dass sie nicht wählen dürfen: Sie haben meist nur sehr schwer Zugang zur Gesundheitsversorgung, zum Bildungssystem, zum Wohnungs- und zum Arbeitsmarkt. Wird eine Person ohne gültigen Aufenthaltstitel Zeug*in oder Opfer einer Straftat, traut sie sich heute im schlimmsten Falle nicht, dies bei der Polizei anzuzeigen, aus Angst davor aufzufliegen und in Schwierigkeiten zu kommen. Eine Stadtbürger*innenschaft kann Sans Papiers ein gewisses Maß an Schutz bieten, ermöglicht ihnen gesellschaftliche Teilhabe und erleichtert ihnen den Alltag. Ein Beispiel ist die Stadt New York: Diese hat 2015 die „IDNYC“ eingeführt. Die Karte können alle bekommen, die älter als zehn Jahre sind, in New York wohnen und ihre Identität irgendwie nachweisen können. Die Karte gilt ab dann als Ausweisdokument, mit dem sich die Personen bei Polizeikontrollen ausweisen können, Zugang zu allen öffentlichen Gebäuden bekommen, ein Bankkonto eröffnen können oder sich via NYC Housing Connect auf günstige Wohnungen bewerben können.

Damit die Karte allerdings nicht nur von Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus genutzt wird, haben alle Inhaber*innen weitere Vorteile wie z.B. vergünstigte Freizeitangebote oder kostenlose Mitgliedschaften in Kultureinrichtungen. So sollen möglichst viele Menschen dazu motiviert werden, sich die Karte ausstellen zu lassen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass man sich beim Vorzeigen der Karte unfreiwillig automatisch als Person mit prekärem Aufenthaltstitel ausweist. Tatsächlich ist die New Yorker Stadtbürger*innenschaft auch bei vielen anderen Gruppen in der Stadt beliebt: Studierende profitieren vom kostenlosen Eintritt in die Museen und von den Vergünstigungen bei den Fitnessstudios. Die queere Community schätzt die IDNYC, weil die Genderbezeichnung – im Gegensatz zu vielen anderen Ausweisen – selbst gewählt werden kann (bzw. darauf verzichtet werden kann) (Lebuhn 2018: 127).

Hier zeigt sich ein weiterer zentraler Punkt in der internationalen Debatte um Urban Citizenship: Es geht nicht nur um die Rechte und Teilhabechancen von Sans Papiers, es geht um gesellschaftliche Teilhabe allgemein und um den Zugang aller Stadtbewohner*innen zu Rechten und Ressourcen. Eine Staatsbürgerschaft schützt noch lange nicht vor Diskriminierung. Zum Beispiel haben es Menschen mit Migrationshintergrund auch mit deutschem Pass häufig schwerer, eine Wohnung, einen Job oder einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Daneben gibt es auch andere gesellschaftliche Gruppen, die aufgrund von Sexismus, Ableismus, Homophobie oder Transphobie von der Nutzung und Inanspruchnahme ihrer formalen Rechte abgehalten werden (Hess & Lebuhn 2014: 15). Soll heißen, es geht bei Urban Citizenship auch darum, Systeme wie z.B. das Gesundheitssystem oder das Sozialwesen insgesamt zugänglicher und sensibler zu machen in Bezug auf verschiedenste Lebensrealitäten.

Die Stadt als Definitionsrahmen für politische Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Drittens werden unter dem Stichwort Urban Citizenship auch Fragen der Governance verhandelt. Es geht darum, Städten mehr rechtliche Spielräume und Entscheidungsfreiheit zu geben, z.B. wenn es um die Aufnahme Geflüchteter geht. Auf nationaler Ebene haben viele Staaten in den letzten Jahren die Asyl- und Migrationsgesetzgebungen laufend verschärft und die Grundrechte von Migrant*innen und Geflüchteten weiter eingeschränkt. Aus dem Gedanken des „Schützens“ der eigenen Nation werden Grenzen gezogen, wird sich abgeschottet, werden nationale Zugehörigkeiten konstruiert und „Fremde“ abgewiesen. Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und den Folgen des Klimawandels fliehen, werden immer wieder an den Außengrenzen der Europäischen Union gestoppt; Schiffen mit Geflüchteten wird die Einfahrt in europäische Häfen verwehrt und so weiter. In den meisten Großstädten wird dagegen ein anderer Alltag gelebt. Hier leben Menschen unterschiedlichster Herkunft auf engem Raum zusammen, wohnen zusammen, arbeiten zusammen, gestalten ihre Freizeit zusammen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in vielen Städten Widerstand formiert gegen die Abschottung und gegen den Rassismus an den Landesgrenzen. Forschende wie der österreichische Soziologe, Politologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck vertreten die Ansicht, Städte sollten zukünftig eine größere Rolle bei der Bewältigung globaler Probleme wie der Klimakrise oder dem Schutz Geflüchteter spielen, bei denen Nationalstaaten versagen würden, gerade weil ihre Souveränität kooperative Lösungen behindere (Bauböck 2020: 1).[1]  

Aber was ist damit gemeint? Was macht die Stadt zu einem geeigneten Definitionsrahmen für politische Gemeinschaft und Zugehörigkeit? Einreisebestimmungen, Aufenthaltsstatus und Staatsbürgerschaft mögen zwar zentralstaatliche Angelegenheiten sein – die Rahmenbedingungen für das alltägliche Leben werden allerdings stark auf lokaler Ebene geprägt (Hess & Lebuhn 2014: 11). Wie oben bereits beschrieben – Städte sind seit jeher Orte der Migration und auch der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Migration (Schillinger 2018: 17). Ob Gesundheitssystem, Wohnungs- oder Arbeitsmarkt – auch diese Bereiche werden zu einem großen Teil auf städtischer Ebene ausgestaltet. Deswegen ergibt es auch Sinn, auf dieser Ebene die Zugänge zu verhandeln.

Und was ist mit der Quartiersebene?

Noch viel mehr trifft das auf die Quartiers- und Nachbarschaftsebene zu. „Whatever large-scale political arrangements we fashion, politics starts in the neighborhood and the town“, heißt es in Benjamin Barbers viel beachtetem Buch „If Mayors Ruled the World“ (2013: 4). Und weiter: „It is where creativity is unleashed, community solidified, and citizenship realized“ (ebd.). In der Tat ist das Quartier unser unmittelbares Lebensumfeld; die Ebene, auf der wir am ehesten selbst aktiv werden können. Um der beschriebenen Krise der repräsentativen Demokratie entgegen zu wirken und um die Distanz zwischen Bürger*innenschaft und Politik zu verringern, die sich heutzutage vielerorts eingestellt hat, verfolgen gegenwärtige politische Strategien häufig den Ansatz, durch neue Formen von Governance und Partizipation Politik auf möglichst lokaler Ebene zu gestalten und umzusetzen (Blokland et al. 2015: 662). Ein gutes Beispiel hierfür ist die Umsetzung des Bund-Länder-Programms „Sozialer Zusammenhalt“ in Berlin. Dabei handelt es sich um den Versuch, lokale Demokratie, Inklusion und Teilhabe auf der Quartiersebene zu fördern, und zwar mithilfe der sogenannten Quartiersräte. 35 Quartiere sind in Berlin als „Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf“ ausgewiesen. Hier haben die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und die Bezirke Quartiersmanagementteams beauftragt, die unter anderem Ansprechpartner für die Sorgen und Anregungen der Bewohner*innen sein sollen. Ziel ist es, durch vielfältige Maßnahmen vor Ort u.a. Wege aus der Arbeitslosigkeit zu finden, Integration zu fördern, Bildungschancen zu verbessern oder selbst organisierte Nachbarschaftsarbeit zu ermöglichen.

Die Quartiersräte setzen sich zusammen aus den Bewohner*innen der Kieze sowie Vertreter*innen von Vereinen, Schulen, Kitas, Religionsgemeinschaften oder Wohnungsunternehmen. Sie bewerten Projektideen und entscheiden gemeinsam mit der Verwaltung über den Einsatz der Fördermittel. Außerdem entwickeln sie auch eigene Projektvorschläge und nehmen Einfluss darauf, was schwerpunktmäßig in einem Quartier verbessert werden soll. Entscheidend ist, dass jede*r, die/der im Quartier wohnt, arbeitet oder sich ehrenamtlich engagiert, mitmachen kann. Die deutsche Staatsbürgerschaft spielt hierbei keine Rolle. In den Quartiersräten sollen alle größeren Gruppen des Quartiers vertreten sein, hinsichtlich Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit etc. Auch wenn es sich hierbei noch nicht um Urban Citizenship im engeren Sinne handelt: Für die Quartiersbewohner*innen sind die Quartiersräte eine Möglichkeit, sich aktiv an der Gestaltung ihres Wohnumfeldes zu beteiligen. Das Programm „Sozialer Zusammenhalt“ erhöht ihre Teilhabechancen und bietet Identifikationsmöglichkeiten mit dem eigenen Quartier. Ein auf städtischer Ebene etabliertes Urban-Citizenship-Modell böte möglicherweise die Chance, die Quartiersräte noch stärker formal zu legitimieren und unser „festgefahrenes System von Diskriminierung und ungleicher Staatsbürger*innenschaft“ (Blokland et al. 2015: 657) zu überwinden.

Urban Citizenship geht uns alle etwas an

Urban Citizenship ist eine Möglichkeit, Sans Papiers mehr Schutz und gesellschaftliche Teilhabe zu garantieren. Ihnen böte eine Stadtbürger*innenschaft die Chance, vorhandene Infrastrukturen im Quartier besser nutzen zu können (z.B. in den Bereichen Gesundheit oder Bildung) sowie einen Weg aus der Informalität. Daneben ist das Urban-Citizenship-Modell Kritik am gängigen Integrationsdiskurs, in dem Integration oft noch kulturell einseitig eingefordert wird, Teilhabe aber gleichzeitig strukturell verwehrt wird. Am Beispiel der Wahlen heißt das, allen Menschen, die fest in ihrem Quartier bzw. ihrer Stadt verwurzelt sind, auch eine Stimme zu geben. Es geht bei Urban Citizenship aber nicht „nur“ um die Rechte und Teilhabechancen von Sans Papiers oder Menschen mit Migrationshintergrund. Urban Citizenship kann die Identifikation mit dem eigenen Wohnumfeld stärken und politische Partizipation stimulieren, was sicherlich viele positive Quartierseffekte hätte. Darüber hinaus steckt in der Urban-Citizenship-Debatte eine Vielzahl an Forderungen: nach bezahlbarem Wohnraum, gerechter Bildung, fairen Arbeitsbedingungen, Inklusion und politischer Teilhabe. Gleichzeitig steckt darin Protest gegen Diskriminierung (z.B. im Gesundheitssystem) und gegen Gentrifizierung. Das sind Themen, die uns alle etwas angehen. Urban Citizenship könnte ein Schritt in die Richtung sein, Städte gerechter für Alle zu machen.

 

[1] Auch in der politischen Sphäre wird diese Thematik adressiert, wie etwa durch das Global Parliament of Mayors oder den Urban7-Prozess im Rahmen der G7-Gipfel.

 

 

 

Dieses Posting entstand aus einer Kooperation des AK Quartiersforschung mit der vhw-Denkwerkstatt Quartier.

 

Literatur

Barber, B. (2013): If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities. New Haven: Yale University Press. 433 S.

Bauböck, R. (2020): Cities vs States: Should Urban Citizenship be Emancipated from Nationality? In: Verfassungsblog [online]. Zuletzt abgerufen am 25.04.2023 unter: https://verfassungsblog.de/cities-vs-states-should-urban-citizenship-be-emancipated-from-nationality/

Blokland, T., Hentschel, C., Holm, A., Lebuhn, H. & Margalit, T. (2015): Urban Citizenship and Right to the City: The Fragmentation of Claims. In: International Journal of Urban and Regional Research 39(4). S. 655-665.

Hess, S. & Lebuhn, H. (2014): Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsdebatte um Migration, Stadt und citizenship. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2(3). S. 11-34.

Lebuhn, H. (2018): Urban Citizenship. Politiken der Bürgerschaft und das Recht auf Stadt. In: Vogelpohl, A., Michel, B., Lebuhn, H., Hoerning, J. & Belina, B. (Hg.): Raumproduktionen II. Theoretische Kontroversen und politische Auseinandersetzungen. Münster: Westfälisches Dampfboot. S. 120-135.

Schilliger, S. (2018): Urban Citizenship: Teilhabe für alle – da, wo wir leben. In: Aigner, H. & Kumnig, S. (Hg.): STADT FÜR ALLE! Analysen und Aneignungen. Wien: Mandelbaum Verlag. S. 14-35.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert