Autor: Leon Zens
Am 30. November 2020 haben die in Europa für Stadtentwicklung zuständigen Minister*innen die „Neue Leipzig-Charta. Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl“ verabschiedet. Wie aus dem Titel bereits deutlich wird, orientiert sich die Neue Leipzig-Charta am Prinzip der gemeinwohlorientierten Stadtentwicklungspolitik. Wörtlich heißt es: „Kommunen sollten im Interesse der Allgemeinheit handeln und dementsprechend gemeinwohlorientierte Dienstleistungen und Infrastrukturen zur Verfügung stellen.“ Gleichzeitig wird in der Charta die Beteiligung aller städtischen Akteure gefordert: Bürger*innen sollten „überall dort zu Wort kommen, wo Stadtentwicklungsprozesse sich auf ihren Alltag auswirken.“ Abgesehen davon, dass sich das Handeln der Kommunen am Interesse der Allgemeinheit orientieren soll und dass die Bürger*innen an der Entwicklung ihrer Städte und Gemeinden beteiligt werden sollen, enthält die Neue Leipzig-Charta jedoch keine konkrete Gemeinwohl-Definition.
Die Quartiersebene findet in der Neuen Leipzig-Charta besondere Beachtung: Quartiere werden explizit als mögliche Experimentierfelder für „innovative Ansätze in allen Bereichen der Stadtentwicklung“ genannt. Das Ziel sind dabei lebendige und sozial gemischte Stadtquartiere, in denen auch die Gemeinwohlorientierung zum Ausdruck kommen soll.
Ist „Gemeinwohl“ messbar?
Wie aber lässt sich Gemeinwohl überhaupt definieren? Wie ist es möglich, so etwas wie das „Gemeinwohl im Quartier“ zu messen; die Zufriedenheit bzw. die Wünsche und Bedürfnisse der Quartiersbewohner*innen abzubilden und gleichzeitig Quartiersentwicklung partizipativer zu gestalten?
Es existieren durchaus Ansätze, die „Quartiersqualität“ in Kennzahlen abzubilden und Quartiere auf diese Weise zu bewerten. In Kanada zum Beispiel nutzt die Stadt Ottawa einen sogenannten Neighbourhood Equity Index, um Disparitäten zwischen Nachbarschaften zu identifizieren und zu bewerten. In den Index fließen 28 Indikatoren ein, darunter beispielsweise das Durchschnittseinkommen in einem Quartier, die durchschnittliche Verschuldung der Quartiersbewohner*innen oder auch der Anteil junger Menschen ohne Schulabschluss. Geringe Disparität zwischen den Nachbarschaften wird hier demnach als Qualitätsmerkmal betrachtet und als Gemeinwohlindikator genutzt.
Der Neighborhood Atlas oder der AARP Livability Index sind weitere Indizes, welche die Qualität von Quartieren in nordamerikanischen Städten anhand von bestimmten Indikatoren quantifizieren (zum Beispiel „housing affordability and access“, „clean air and water“ oder „safe and convenient transportation options“). Ziel ist es, die Lebensqualität in Quartieren zu bestimmen und somit Menschen beispielsweise bei der Wahl ihres Wohnorts zu helfen.
Solche Indizes sind aus mehreren Gründen problematisch: Wer legt die Kriterien fest, anhand derer Aussagen über die Qualität von Quartieren getroffen werden, und wem nützen sie? Meist sind es top-down-Prozesse, in denen solche Indizes von Lobbyorganisationen wie der AARP (American Association of Retired Persons) erstellt werden. Welchen versteckten Bias gibt es dabei? Welche Vorurteile werden möglicherweise produziert und reproduziert? Insbesondere bei den Themen Armut, Bildung und Deprivation besteht die Gefahr, dass Quartiere und deren Bewohner*innen stigmatisiert werden. Segregationsprozesse können dadurch verstärkt werden und während manche Quartiere immer teurer und exklusiver werden, werden andere vernachlässigt.[1]
In Deutschland bietet die Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) Quartierszertifikate für die Entwicklung von besonders nachhaltigen Quartieren an. Das Angebot richtet sich an Kommunen sowie private Projektentwickler*innen und Investor*innen. Die Kriterien orientieren sich stark an der Nachhaltigkeit von neuen Quartieren (z.B. in Bezug auf die Ökobilanz und die Biodiversität), umfassen aber auch soziokulturelle Aspekte wie z.B. eine soziale und funktionale Mischung. Statt Disparitäten zwischen Quartieren hervorzuheben, liegt hier der Fokus somit auf dem Aspekt der Nachhaltigkeit, welcher wiederum als Indikator für gemeinwohlorientierte Quartiersentwicklung verwendet werden könnte. Positiv hervorzuheben ist, dass es sich bei den Zertifikaten um Auszeichnungen handelt (Silber/Gold/Platin). Eine Abwertung von Quartieren findet somit nicht oder nur indirekt statt. Allerdings wurden auch die Kriterien der DGNB in einem top-down-Prozess entwickelt – ohne Einbezug der Bewohnerschaft.
Aber bilden diese Quartiersbewertungen überhaupt in irgendeiner Form das Gemeinwohl in einem Quartier ab? Obwohl mehr „Nachhaltigkeit“ sicherlich dem Gemeinwohl zuträglich sein könnte und auch die Disparitäten innerhalb von Nachbarschaften Einfluss darauf ausüben, dienen Zertifikate wie die der DGNB am Ende wohl eher dem Quartiersmarketing. Geht man dagegen nach den in der Neuen Leipzig-Charta angedeuteten Richtlinien für eine gemeinwohlorientierte Quartiersentwicklung, kann „echtes“ Gemeinwohl nur erreicht werden, wenn sich die Entwicklung von Nachbarschaften am Wohle der Allgemeinheit orientiert und wenn die Bürger*innen daran teilhaben können.
Wünsche und Visionen statt Werte und Zahlen? Der Quartier-Gemeinwohl-Index
Genau das versucht ein Pilotprojekt aus Münster: Hier hat sich die Initiative B-Side mit dem Hansaforum darum bemüht, einen „Quartier-Gemeinwohl-Index“ für das Münsteraner Hansaviertel zu erschaffen, welcher die Wünsche und Visionen der Quartiersbewohner*innen abbildet. Das Hansaforum ist eines von vier Projekten, die im Rahmen des Projektaufrufs „Stadt gemeinsam gestalten! Neue Modelle der Quartiersentwicklung“ von der Initiative Nationale Stadtentwicklungspolitik ausgewählt, finanziell gefördert und durch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung wissenschaftlich begleitet wurden.
Es handelt sich bei dem Quartier-Gemeinwohl-Index im eigentlichen Wortsinn gar nicht um einen Index, der das „Quartierwohl“ mit einer Zahl ausdrückt, sondern eher um einen Kompass, der eine gewisse Richtung aufzeigt. Statt zu messen, was da ist, misst der Index sozusagen, was da sein könnte. Aufgeteilt in 16 Themenfelder (z.B. „Älter werden im Quartier“, „Inklusion“ oder „Klimapositivität“) zeigt der Index an, was sich die Bewohner*innen des Hansaviertels unter gemeinwohlorientierter Quartiersentwicklung vorstellen. Er bietet somit einen qualitativen statt quantitativen Zugang zu der Frage, was sich die Menschen für ihr Quartier wünschen. Für die 200 zufällig ausgewählten Menschen aus dem Hansaviertel, die im „Hansa-Konvent“ zwei Mal pro Jahr über die Förderung großer Gemeinwohlprojekte entscheiden, ist der Quartier-Gemeinwohl-Index eine Entscheidungshilfe.
Gemeinwohl wird hier nicht als Wert definiert, der gemessen und verglichen werden kann, sondern als gesellschaftliches Konstrukt, das in einem diskursiven Prozess ständig neu ausgehandelt werden muss. Ähnlich beschreibt es Michael Stolleis: „Das Gemeinwohl der ‚offenen‘ demokratischen Gesellschaft soll […] stets neu entstehen. Fassbar ist es nicht als Ergebnis, sondern als Prozess“ (Stolleis 1987, S. 1062).
Die Frage, wie gleichberechtigt Interessensvertreter*innen an einem solchen Aushandlungsprozess teilnehmen können, ist in erster Linie eine Machtfrage. Erst wenn sichergestellt ist, dass die Interessen aller Beteiligten in einem fairen, transparenten Dialog einbezogen werden, ist am Ende ein gerechtes Ergebnis zu erwarten. Ein solcher deliberativer Prozess setzt allerdings ein Verständnis für die Vielfalt von Interessen voraus und die Bereitschaft, eigene Interessen zu revidieren. Bei dem Ergebnis handelt es sich daher auch nicht um einen fixen Wert, sondern um einen Kompromiss, welcher stets aufs Neue gesucht und überprüft werden muss. Mit dem Hansaforum hat die Initiative B-Side einen Handlungs- und Gestaltungsraum für einen solchen Diskursprozess geschaffen.
Wem nutzen Gemeinwohl-Indizes?
Nutzt der Quartier-Gemeinwohl-Index aus Münster letztendlich wirklich „der Allgemeinheit“? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt es zu einem Dilemma: Denn die konkrete inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls ist immer von den Interessen und Zielen derjenigen abhängig, die sich auf das Gemeinwohl berufen und das Gemeinwohl bestimmen wollen. Deshalb heißt es bei Michael Stolleis: „Angesichts der fast unbegrenzten inhaltlichen Variationsmöglichkeiten ist nicht die Frage, was das Gemeinwohl ‚in Wahrheit‘ sei, sondern wer es bestimmt, die praktisch entscheidende“ (ebd.).
Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass sich Gemeinwohl niemals endgültig definieren lässt: Wie schaffen wir es dann, dennoch Maßstäbe für eine gerechte Quartiersentwicklung zu setzen, die sich am Wohle der Quartiersbewohner*innen, der (lokalen) Allgemeinheit, orientiert? Gunnar Folke Schuppert schreibt, um diesem Dilemma „zwischen inhaltlichem Definitionsverbot des Gemeinwohls und Maßstablosigkeit prozeduraler Gemeinwohlbestimmung“ zu entkommen, bedürfe es eines Mittelwegs, der uns inhaltlich nicht „gänzlich kompasslos“ zurücklasse (Folke Schuppert 2002, S. 27).
Der Quartier-Gemeinwohl-Index bietet das Potenzial für einen solchen inhaltlichen Kompass, denn statt zu versuchen, das Gemeinwohl zu definieren und zu quantifizieren, verschiebt er den Fokus auf den Aushandlungsprozess und die beteiligten Akteure. Auf diese Weise lässt sich das Gemeinwohl in einem diskursiven Prozess von „der Allgemeinheit vor Ort“ aushandeln, ohne ihm dabei einen fixen Wert beizumessen. In einem demokratischen bottom-up-Verfahren bildet der Index die Wünsche und Bedürfnisse der Quartiersbewohner*innen vor Ort ab. Andererseits zeigt er auf, wo noch Handlungsbedarf besteht – jedoch ohne dabei das Quartier zu stigmatisieren und abzuwerten. Somit nutzt er tatsächlich in erster Linie den Bewohner*innen des Hansaviertels, die sich über den Prozess ganz im Sinne der Neuen Leipzig-Charta selbst in die Quartiersgestaltung einbringen.
Darüber hinaus stellt sich natürlich auch die Frage, ob sich Gemeinwohl überhaupt auf der Ebene des Quartiers bestimmen lässt. Schließt Gemeinwohl nicht Alle mit ein, und nicht nur die Bewohnerschaft eines einzigen Quartiers? Ideal wäre es, wenn deliberative Aushandlungsprozesse wie in Münster auch auf höherer Ebene verstärkt zum Einsatz kämen, auch wenn nationale oder globale Themen sicherlich andere Herangehensweisen, andere Diskursarenen brauchen, als lokale Quartiersthemen. Der Quartier-Gemeinwohl-Index des Hansaforums macht vor, wie es im Mikrobereich gelingen kann, gerechtere, gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung zu betreiben. Denn um es mit dem Slogan des Saarlands auszudrücken: „Großes entsteht immer im Kleinen.“
[1] Wohin das im Extremfall führt, zeigt ebenfalls die US-amerikanische Geschichte: Das sogenannte Redlining war eine zutiefst diskriminierende Praxis, bei der in den 1930er-Jahren in über 200 Städten Quartiere, in denen vorwiegend Migrant*innen, arme Weiße und Menschen mit dunkler Hautfarbe lebten, als „gefährlich“ bewertet wurden, sodass sich Banken und Investoren aus den betroffenen Gebieten zurückzogen und es für die Bevölkerung vor Ort fast unmöglich wurde, an Kredite oder Hypotheken zu kommen – die Grundstückswerte verfielen, Hauseigentümer*innen ließen ihr Eigentum zurück und seitens der Behörden wurde kaum noch in die Infrastruktur investiert. Die verheerenden Folgen sind in vielen Städten der USA bis heute sichtbar.
Dieses Posting entstand aus einer Kooperation des AK Quartiersforschung mit der vhw-Denkwerkstatt Quartier.
Literaturverweise:
Schuppert, G. F. (2002): Gemeinwohl, das. Oder: Über die Schwierigkeiten, dem Gemeinwohlbegriff Konturen zu verleihen. In: Schuppert, G. F. & Neidhardt, F. (Hg.): Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz. Berlin. 19-64
Stolleis, M. (1987): Gemeinwohl. In: Herzog, R., Kunst, H., Schlaich, K. & Schneemelcher, W. (Hg.): Evangelisches Staatslexikon. 3. Auflage. Stuttgart. 1061-1064