Kiezblocks: Neue Konzepte für attraktive, lebenswerte Wohnquartiere für Alle

Autor: Leon Zens

Pop-Up-Radwege, temporäre Spielstraßen, autofreie Friedrichstraße – trotz aller Einschränkungen bot die Pandemie während der vergangenen Monate auch ein Zeitfenster für wirkungsvolle Veränderungen im Berliner Stadtbild, die das Potenzial bergen, die Sicherheit und Lebensqualität in Wohnquartieren zu erhöhen. An manchen Orten ist kurzfristig das Bild einer Stadt entstanden, die die Bedürfnisse von Radfahrenden, Zu-Fuß-Gehenden und spielenden Kindern in den Mittelpunkt stellt und nicht mehr die der Autofahrenden. Die Frage, die sich nun stellt, ist, wie es nach der Pandemie weitergehen wird. Berlin hat gerade neu gewählt und die Rot-Grün-Rote Landesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag auf umfassende Maßnahmen zum Thema Mobilität verständigt – welche innovativen Konzepte finden sich darin, was wird von den temporären Maßnahmen der vergangenen Monate bleiben?

Eine Idee, die explizit im Koalitionsvertrag erwähnt wird, sind die sogenannten Kiezblocks. Kiezblocks, das sind Wohnquartiere ohne Kfz-Durchgangsverkehr. Bauliche Maßnahmen oder Verkehrsregeln sollen verhindern, dass Autofahrende das Viertel als Abkürzung nutzen, und den Verkehr stattdessen auf die umliegenden Hauptstraßen lenken. So soll innerhalb des Kiezblocks ein verkehrsberuhigter Bereich entstehen, wo sich Radfahrende und Zu-Fuß-Gehende sicher fortbewegen können. Die freiwerdenden Flächen sollen zu Begegnungsorten werden; den Anwohnenden ein Stück Lebensqualität zurückgegeben werden.

Vorbild Barcelona

Die treibende Kraft hinter dem Konzept der Kiezblocks in Berlin ist der Verein Changing Cities, welcher aus dem Berliner Volksentscheid Fahrrad hervorgegangen ist und sich seitdem für eine Umgestaltung der Stadt in Richtung einer nachhaltigeren Mobilität einsetzt. Das Konzept der Kiezblocks ist allerdings nicht neu, sondern geht auf die sogenannten Superblocks aus Barcelona zurück. Die Stadt, die unter einer extremen Verkehrsbelastung, zu dichter Bebauung sowie einem viel zu kleinen Anteil an Grünflächen leidet, hat 2016 ein neues, nachhaltiges Mobilitätskonzept entwickelt.

2017 ist der erste Superblock entstanden. Bis zu neun Häuserblocks werden dabei jeweils zusammengefasst, innerhalb derer der Autoverkehr minimiert wird. Auf ehemaligen Straßen werden Grünflächen, Spielplätze und Sitzgelegenheiten für die Anwohnenden geschaffen. Das Konzept sieht vor, insgesamt rund 500 dieser Superblocks in Barcelona anzulegen und dadurch 60 Prozent der bisher von Autos genutzten Straßen für andere Nutzungen zu befreien. Prognosen sagen voraus, dass dadurch die Luft- und Lärmbelastung enorm verringert werden könnten und die Lebensqualität sowie die Lebenserwartung der Einwohner und Einwohnerinnen deutlich steigen würden.

Alles super – oder nicht?

Was erstmal toll klingt, stößt aber immer wieder auch auf Kritik und Gegenwehr. Eine der am häufigsten gestellten Fragen ist, was mit dem Verkehr passieren soll, der verdrängt wird. Während es in den Superblocks ruhiger und lebenswerter wird, könnten die umliegenden Quartiere noch stärker belastet werden.

Außerdem könnten die Hauptstraßen noch voller werden. Dies würde möglicherweise soziale Ungleichheiten verstärken: An den Hauptstraßen wohnen häufiger Menschen mit niedrigerem Einkommen – diese würden dann noch stärker durch den Verkehr belastet, während die Bewohnerinnen und Bewohner in den Superblocks sich über die neue Lebensqualität freuen. Aber auch dort besteht die Gefahr, dass soziale Ungleichheiten zunehmen, wenn nämlich die Mieten infolge der Aufwertung steigen und Menschen mit niedrigerem Einkommen irgendwann fortziehen müssen (auch „Green Gentrification“ genannt). Neben der Gentrifizierung besteht auch die Gefahr der Touristifizierung. Aus manchen Superblocks in Barcelona ist zu hören, dort herrsche mittlerweile eine Atmosphäre wie im Freizeitpark.

Spaziergang durch die Grüne Stadt

Ich treffe mich mit Nicolas von der Kiezblock-Initiative Grüne Stadt. Die Initiative ist eine von mittlerweile 53, die sich in Berlin für die Umgestaltung ihres Kiezes einsetzen. Über Changing Cities sind sie alle miteinander vernetzt. Die Grüne Stadt, das ist das Viertel zwischen der Danziger Straße im Süden und den Gleisen der Ringbahn im Norden, sowie der Greifswalder Straße im Westen und der Kniprodestraße im Osten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.

 

 

Wir treffen uns an der Kreuzung Bötzowstraße/John-Schehr-Straße. Hier wird besonders deutlich, warum eine Verkehrsreduktion im Kiez dringend nötig wäre. Genau an der Ecke befinden sich nämlich die Bötzow-Grundschule und schräg gegenüber eine von mehreren Kitas im Kiez. Sowohl Bötzow- als auch John-Schehr-Straße werden von Autofahrenden gerne als Umfahrung der umliegenden Hauptstraßen genutzt. Entlang der John-Schehr-Straße weisen zwar Schilder und Straßenmarkierungen auf querende Kinder hin, doch viele Autos brausen dennoch mit deutlich mehr als Tempo 30 vorbei. Erschwerend kommt hinzu, dass sich nahe der S-Bahn-Station Greifswalder Straße ein Zementwerk befindet. Die schweren Zementlaster nutzen ebenfalls häufig die John-Schehr-Straße als Umfahrung der viel befahrenen Danziger Straße. Schwerlastverkehr durch ein Wohnviertel mit mehreren Kitas und einer Grundschule – what could possibly go wrong?

Kleine Maßnahmen mit großer Wirkung

Die Initiative Kiezblock Grüne Stadt möchte an der Kreuzung eine Pollerreihe errichten lassen. Die würde die John-Schehr-Straße an dieser Stelle unterbrechen. Das würde Anliegerinnen und Anlieger zwar nicht daran hindern, von außen mit dem Auto in den Kiez hinein zu fahren. Es würde aber dazu führen, dass es unattraktiv wird, die John-Schehr-Straße als einfache Umfahrung der Danziger Straße zu nutzen. Somit gäbe es bereits eine deutliche Verkehrsreduktion und der Weg der Kinder zur Schule oder Kita würde sicherer.

Nicolas betont immer wieder, dass es nicht darum gehe, die Autos komplett aus dem Kiez zu verbannen. Anwohnerinnen und Anwohner sollen weiter mit dem Auto zu ihrer Wohnung kommen, Lieferdienste, Handwerkerinnen und Handwerker weiter zu ihren Kunden und Kundinnen. Aber der unnötige Durchgangsverkehr soll reduziert werden. Gleichzeitig gehe es auch darum, einen Teil der Straßenflächen den Anwohnerinnen und Anwohnern zurückzugeben. Nicolas sagt, die Initiative setze sich dafür ein, dass mehr Begegnung in der Nachbarschaft passiert und die Menschen mehr Möglichkeiten bekommen, miteinander zu interagieren.

Wie das aussehen könnte, erklärt mir Nicolas auch an Ort und Stelle. Die Bötzowstraße ist hier sehr breit: Zwei Straßenarme mit jeweils einer Parkspur und zwei Fahrspuren, dazwischen eine triste Mittelpromenade, die – wenn überhaupt – als Hundeauslauffläche genutzt wird. Für eine Wohnstraße eigentlich völlig überdimensioniert, meint Nicolas. Wenn jetzt zusätzlich zu den Pollern an der Kreuzung ein Straßenarm Teil der Grünfläche werden würde, gäbe es viel mehr Aufenthaltsfläche für die Menschen im Kiez, ohne dass viel Verkehrsfunktion verloren ginge. Beide Beispiele zeigen, dass kleine Maßnahmen bereits einen großen Effekt haben können, ohne dass Autofahrer und Autofahrerinnen aus dem Kiez ausgeschlossen werden.

 

„Wir sperren nicht die Autos aus dem ganzen Viertel aus, sondern es ist eigentlich recht moderat. Es ist gar nicht so ‘ne Revolution, sondern eher eine Reform.“

 

Die Bedenken und Kritik am Kiezblock-Konzept versteht Nicolas. Er meint, es gäbe im Kiez grundsätzlich eine breite Mehrheit für Verkehrsberuhigung, aber man müsse schon auf die Leute zugehen und ihnen erklären, was hinter dem Konzept steckt und dass es nicht darum gehe, die Autos einfach auszusperren. Und zum Kiezblock-Konzept gehöre eben auch, dass der Verkehr an den Hauptstraßen ebenfalls reduziert wird. Um zu verhindern, dass die Menschen entlang der Hauptstraßen unter einer zusätzlichen Verkehrsbelastung leiden, solle dort Tempo 30 eingeführt werden. Außerdem solle der öffentliche Nahverkehr gestärkt werden, um es insgesamt unattraktiver zu machen, das Auto zu benutzen.

Die Gefahr der Gentrifizierung sieht Nicolas eher nicht. Auch hier verweist er wieder darauf, dass das Kiezblock-Konzept nicht auf einen Kiez beschränkt sei. Es gehe nicht darum, nur den eigenen Kiez aufzuwerten. Im Gegenteil, das Ziel der Kiezblock-Initiativen sei es, stadtweit eine Verkehrsberuhigung zu erreichen, so dass ganz Berlin eines Tages sicherer und lebenswerter für alle Menschen wird.

Leitbilder und politischer Rahmen

Eines der stadtplanerischen Leitbilder, an die das Konzept der Kiezblocks anknüpft, ist die Stadt der kurzen Wege. Diese zeichnet sich durch attraktive, kompakte und nutzungsgemischte Wohnquartiere, gut erreichbare öffentliche Verkehrsmittel, eine wohnungsnahe Ausstattung mit Versorgungs-, Dienstleistungs- Freizeit- und Erholungsangeboten sowie die Nähe von Wohnen und Arbeiten aus und bildet einen Gegenentwurf zur funktionsgetrennten, autogerechten Stadt.

Die Kiezblocks stehen auch ganz im Sinne der Neuen Leipzig-Charta, welche lebendige und sozial gemischte Stadtquartiere fordert, in denen die Gemeinwohlorientierung zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus heißt es in der Neuen Leipzig-Charta, Bürgerinnen und Bürger sollten überall dort zu Wort kommen, wo Stadtentwicklungsprozesse sich auf ihren Alltag auswirken.

Klar, um diesen Leitbildern näher zu kommen, braucht es das Engagement und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, aber es braucht auch politischen Willen. Berlin hat gerade neu gewählt und die Rot-Grün-Rote Landesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag umfangreiche Ziele für eine nachhaltigere Mobilität formuliert. Die Kiezblocks werden darin explizit erwähnt: „In Wohngebieten unterstützt die Koalition Maßnahmen zur Vermeidung von motorisiertem Durchgangsverkehr und zur Verkehrsberuhigung, zum Beispiel Kiezblocks.“ Außerdem sollen die Bezirke darin unterstützt werden, dort wo es sinnvoll und möglich ist „unter Berücksichtigung geeigneter Beteiligungsformate Parklets, verkehrsberuhigte Kieze, fußverkehrsfreundliche Nebenstraßen, Kiezblocks, Klimastraßen und PocketParks einzurichten, Maßnahmen zur Entsiegelung zu fördern und Modellprojekte mit dem Ziel der Umweltgerechtigkeit zu initiieren.“ Darüber hinaus ist im Koalitionsvertrag zu lesen, die Koalition wolle alle rechtlichen Möglichkeiten zur Ausweitung von Tempo 30 nutzen und den „Rück- und Umbau überdimensionierter Relikte der autozentrierten Stadt“ vorantreiben.

Große Ziele, die Hoffnung machen, aber deren Umsetzung in den kommenden fünf Jahren auch eine große Herausforderung sein wird. Die Initiative Kiezblock Grüne Stadt möchte zunächst einmal mit ein paar kleineren Verbesserungen in ihrem Kiez anfangen. Die Vision ist, dass aus kleinen Maßnahmen, wie einer Pollerreihe oder der Umgestaltung eines Straßenarms, irgendwann ein attraktives, sicheres, lebenswertes Wohnquartier für Alle wird, und zwar nicht nur in der Grünen Stadt, sondern in vielen Kiezblocks in der ganzen Stadt. Auf meine Frage, was er sich für die Zukunft wünschen würde, antwortet Nicolas: „Ich würde mir erhoffen, dass hier in zehn Jahren ein richtiger Wandel stattgefunden hat, dass eine Begegnungszone entstanden ist, wo die Nachbarschaft zusammenkommt. Wo es komplett normal ist, dass Kinder, aber auch die Anwohnenden, einfach so über die Straße laufen, ohne Gefahr. […] Es fehlt einfach so ein bisschen an Vorstellungskraft und ich glaube, da müssen wir hin. Dass wir den Leuten erklären: Es ist gar nicht so viel Veränderung nötig, um eine große Veränderung zu erreichen!“.

 

 

Karte: © Leon Zens

 

Dieses Posting entstand aus einer Kooperation des AK Quartiersforschung mit der vhw-Denkwerkstatt Quartier. Wir möchten uns an dieser Stelle bei Changing Cities und der Kiezblock-Initiative Grüne Stadt für die Zusammenarbeit bedanken. Informationen und Neuigkeiten zu den Berliner Kiezblöcken sind hier zu finden.

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