Gerechtigkeit im Quartier für alle – es ist an der Zeit Mobilität neu zu denken

Autorin: Kirsten Krüger

Mobilität ist ein Grundbedürfnis der Menschen und eine Voraussetzung für Selbstständigkeit, Lebensqualität sowie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Insbesondere die Alltagsmobilität ist wichtig: Der Weg zur Arbeit, zur Schule, zur Kita, zum Einkaufen, zum Treffen mit Freunden, zu einer Veranstaltung oder auch der Spaziergang im Grünen. Verschiedene Orte werden dabei durch zurückgelegte Wegstrecken miteinander verbunden, wobei der Ausgangspunkt in den meisten Fällen die eigene Wohnung ist. Mobilität und Quartier sind schon allein deshalb aufs Engste miteinander verknüpft.

Menschen desselben Quartieres sind allerdings nie auf die gleiche Weise mobil. Weil wesentliche individuelle Faktoren das Mobilitätsverhalten der Einzelnen beeinflussen, wählen Menschen unabhängig von der angebotenen Infrastruktur völlig unterschiedliche Verkehrsmittel, Wegstrecken oder Mobilitätszeiträume – je nach Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad, abhängig von Erwerbsarbeit und Einkommen, Lebensphase und Familienrolle oder Lebensstil und Umweltbewusstsein. Hier einige Beispiele für diese mobile Vielfalt: Personen, die Sorgearbeit leisten, legen etwa häufiger Wegeketten (von zuhause – zur Kita – zur Arbeit – zum Einkaufen – zurück zur Kita – wieder nach Hause) statt einfacher Pendelstrecken zurück. Um Zeit zu sparen, suchen sie eher Jobs in der näheren Umgebung, sind insgesamt häufiger im näheren Wohnumfeld unterwegs und deshalb stärker auf engmaschige Fuß- und Radwegenetze angewiesen. Statistisch lässt sich zeigen, dass Männer (sie sind statistisch betrachtet weniger häufig für oben genannte Sorgearbeit zuständig) meist längere Arbeitswege haben und so im Schnitt doppelt so weit fahren wie Frauen. Das wirkt sich auch auf die Wahl der Verkehrsmittel aus: Frauen sind laut Statistik in der Regel multimodaler unterwegs, haben seltener Zugang zu einem Auto (nutzen auch wesentlich seltener Car-Sharing-Angebote) und betreiben schon deshalb oft mehr Mobilitätsmanagement im Alltag (vgl. hierzu u. a. Women in Mobility; Ramboll 2021; Projekt gerecht mobil von Life e.V.; ökologischer Verkehrsclub Deutschland e. V.; Kern 2020).

Gendergerecht, sozialgerecht, inklusiv – gute Mobilität für alle

Meistens werden in der Debatte um ungleiche Mobilität männliches und weibliches Mobilitätsverhalten kontrastiert. Kritische Stimmen monieren, dass Städte mit einem männlichen Blick geplant und am männlichen Körper und seinen Bedürfnissen orientiert werden. Das reiche von der Orientierung beim Planen und Bauen an eher männlichen Maßstäben, Ticketsystemen im Nahverkehr, die die Wegeketten der Menschen mit Sorgearbeit nicht berücksichtigen, der Priorisierung von Pendelstrecken bei der Schneeräumung im Winter bis hin zu unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnissen im öffentlichen Raum, denen ungleiche Beachtung zuteil wird. Leslie Kern präzisiert diese Kritik in ihrem Buch „Feminist City“ noch: Die Norm für Designs und Planungen sei in diesem Kontext der „white, able-bodied cis man“ (Kern 2020, S. 54). Diese Formulierung lässt die inhärenten Benachteiligungen weiterer Gruppen im Quartier offenkundig werden. Bei detaillierter Betrachtung wird auch deutlich, dass bei Kritik an ungerechter Mobilitätsplanung oft weniger das Geschlecht als eigentlich die Lebenslage und die Stellung im Lebenszyklus (z.B. Familiengründung und einhergehende Sorgearbeit) im Vordergrund steht.

Denkt man das Thema der gerechten Mobilität konsequent vom Quartier aus, dann sollte der Bezugspunkt für Planung und Design also noch breiter gesetzt werden. Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) z.B. listet folgende Personengruppen mit starkem Bezug zum Quartier: Kinder und Jugendliche, Personen mit Familien- und Erziehungsarbeit, Ältere Menschen, Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sowie Menschen mit Migrationshintergrund (FGSV 2012, S. 3). Mit Blick auf das Projekt MobileInclusion der TU Berlin lassen sich darüber hinaus von Armut betroffene Menschen ergänzen, denn manche können es sich schlicht nicht leisten einen größeren Aktionsradius zu haben. Die genannten Gruppen sind nicht nur die zentralen Nutzendengruppen von Quartieren, sie sind darüber hinaus laut Huber (2016) auch besonders häufig von Mobilitätsarmut betroffen (Huber 2016, S. 30). Nicht ein „white, able-bodied cis man“, sondern diese Gruppen sollten also der Ausgangspunkt für Mobilitätsplanungen sein, denn sie alle bewegen sich im Quartier und sind auf entsprechende Angebote und Räume angewiesen. Wenn Gehwege im Quartier nicht breit genug sind, es keine barrierefreien Zugänge zum öffentlichen Nahverkehr gibt, zu wenig Sitzmöbel im öffentlichen Raum vorhanden sind, Haltestellen zu weit auseinander liegen oder sichere Querungshilfen auf dem Weg zur Schule fehlen, sind immer bestimmte Gruppen stärker davon betroffen als andere.

Die Stadt Wien macht vor wie inklusive Stadt- und Quartiersplanung gehen kann: Seit den 1990er-Jahren wird hier Gender Planning praktiziert. Ausgehend von der Care-Perspektive und der Frauenbewegung geht es dabei laut Eva Kail vom Amt für strategische Planung der Stadt Wien längst nicht allein um das biologische Geschlecht. Vielmehr liege der Fokus darauf die sozialen Rollen in einer Gesellschaft im Stadtbild abzubilden. Doch die explizite Gender-Perspektive helfe dabei, den Status Quo tatsächlich zu verändern und ganz allgemein sei eben „eine frauengerechte Stadt eine gute Stadt für alle“ (Eva Kail im fairkehr-Interview 2021). 

Vielfältige Perspektiven – die Basis für Mobilitätsgerechtigkeit

Häufig sind es griffige Leitbilder, die uns passable Lösungswege vorzeichnen. Für ein mobilitätsgerechtes Quartier wird oft eine Orientierung am „Quartier der kurzen Wege“ gefordert. Ideal seien kompakte, nutzungsgemischte Quartiere, welche wohnungsnah die alltäglichen Bedürfnisse nach u.a. Versorgung, Begegnung, Freizeit, Dienstleistung und Mobilität erfüllen, so dass Selbständigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vor Ort für alle möglich werden. Barrierefreie Zugänge und Sicherheit sind dabei zentral, außerdem die klare Priorisierung des Fuß- und Radverkehrs zu Ungunsten einer auf motorisierten Individualverkehr ausgerichteten Stadtstruktur sowie ein gut ausgebauter, bezahlbarer und barrierearmer öffentlicher Nahverkehr. Grüne und blaue Freiräume sollen ökologische, gesundheitliche und soziale Funktionen im Quartier erfüllen, gleichzeitig attraktive, durchlässige Wegeverbindungen ermöglichen und flächengerecht verteilt werden (vgl. hierzu z.B. VCD; gerecht mobil des Life e.V.).

Das klingt vielversprechend. Für inklusive und sozial gerechte Mobilitätsangebote sind in der Praxis vor Ort jedoch vielfältige Perspektiven auf Mobilität unabdingbar. Die Dominanz einer männlichen und weniger inklusiven Perspektive wird u.a. dadurch begünstigt, dass Frauen immer noch seltener in den Professionen der Stadt- oder Verkehrsplanung vertreten sind. Das deutsche Verkehrsministerium z.B. ist seit jeher in männlicher Hand und bleibt es auch nach der jüngsten Wahl. Neben vielfältig zusammengesetzten Planungsteams ist es zwingend nötig, dass Verkehrsplanende generell die Wegemuster und Mobilitätsbedürfnisse vor Ort besser und genauer verstehen. Nur dann lässt sich mehr Mobilitätsgerechtigkeit im konkreten Quartier herstellen. Dafür bräuchte es allerdings entsprechend gestaltete Studien. Die Konzeption der vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebenen Studie „Mobilität in Deutschland“ (MiD), kritisieren Baum und Albrecht vom fairkehr Magazin, stamme z.B. aus den 60ern und sei nicht geschlechtsneutral (fairkehr 01/2021; vgl. zum Gender Data Gap auch: gerecht mobil). In einer solchen Konstellation entstehen systematisch Wissenslücken in Bezug auf die Mobilitätsbedürfnisse derjenigen Gruppen, welche die Verkehrsangebote und Verkehrsräume im Quartier besonders intensiv nutzen und auf sie angewiesen sind.

Für eine gerechte Mobilitätsplanung sollten nicht nur vielfältige Planungsperspektiven oder korrekt erhobene Daten eine Rolle spielen, sondern v.a. die Nutzenden vor Ort selbst mit ihren Alltagsbedarfen und Interessen von Anfang an stärker in entsprechende Pläne einbezogen werden. Planungsentscheidungen im Sinne eines „Quartiers für alle“ sollten deshalb nicht nur „für alle“, sondern „mit allen“ getroffen werden, wie Stephanie Weiß so treffend formuliert (Weiß 2017, S. 243). Zur Beteiligung der Menschen vor Ort gibt es viele gute Ideen: Schon mit Kitakindern – um nur eine der wenig beachteten Gruppen im Quartier zu benennen – lassen sich z.B. Kiezbegehungen unternehmen und vor Ort ihre Mobilitätsbedürfnisse erfassen.

Krisen verändern unser Mobilitätsverhalten – eine Chance?

Interessant ist, dass sich während Krisen meistens auch das Mobilitätsverhalten der Menschen verändert. Auch die Corona-Pandemie hat während der letzten anderthalb Jahre dazu geführt, dass die meisten Menschen ihre Mobilität drastisch reduziert oder auch die Wahl ihrer Verkehrsmittel an die Viruslage und das individuelle Sicherheitsgefühl angepasst haben.

Studien zeigen, dass nicht nur die Wegezahl abgenommen hat, sondern sich die Wegstrecken im Schnitt pro Person um ein Drittel verkürzt haben. Dieser Rückgang der Tageskilometer belegt dabei eine verstärkte Nahraumorientierung der Menschen; Homeoffice, Homeschooling, Onlineshopping und Streaming halten in dieser Zeit Einzug, so dass sich der Mobilitätsradius im Lockdown häufig auf das eigene Wohnquartier und die Nachbarschaft reduziert und die Mobilität hier zeitweise sogar zugenommen hat. Auch veränderte sich der Modal Split: Der Individualverkehr nahm während der Pandemie zu, die Nutzung des ÖPNV ging aus Angst vor Ansteckung zurück. Gerade in den Städten nahmen in dieser Zeit Fuß- und Radverkehr zu. Wir können also durchaus annehmen, dass sich während der Pandemie der Kreis der „Personengruppen mit starkem Bezug zum Quartier“ signifikant erhöht hat.

Dass im ersten Lockdown plötzlich eine größere Vielfalt von Menschen täglich im Kiez anzutreffen war, könnte die Relevanz von Verkehrswegen, Verkehrsmitteln und dazugehörigen öffentlichen Räumen im Wohnquartier auch bei den entscheidenden Instanzen stärker in den Fokus gerückt haben: Man denke nur an die Einführung von Pop-up-Fahrradwegen oder Schanigärten, von temporären Fußgängerzonen oder Shared Spaces (im Bild zu sehen: Autofreie Friedrichstraße in Berlin).

Während schon immer deutliche Unterschiede in der Mobilität einzelner Gruppen im Quartier zu erkennen waren, gehen Tuitjer und Schäfer in ihrem Beitrag zum wissenschaftlichen Kolloquium des WZB davon aus, dass diese Unterschiede und Benachteiligungen auch in Krisenzeiten bestehen bleiben, wenn nicht sogar verschärft werden. Denn bestimmte gesellschaftliche Gruppen konnten während der Pandemie besser bzw. schlechter mobil bleiben: Frauen mit Kindern und Universitätsabschluss haben ihre Mobilität während der Pandemie am stärksten reduziert.

Neben ihnen haben vorrangig jüngere und ältere Menschen sowie Risikogruppen ihre Außerhaus-Aktivitäten heruntergefahren, während Menschen ohne Sorgearbeit und mit Zugang zu einem Pkw nach der ersten Coronawelle bald wieder täglich längere Fahrten zur Arbeit zurückgelegt haben. Der ökonomische Haushaltsstatus ist ebenfalls entscheidend für das Verkehrsverhalten der Menschen: Vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen und ohne Pkw-Zugang nutzten in der Pandemiezeit den öffentlichen Nahverkehr (vgl. zum Thema Pandemie und Mobilität z.B. WZB/infas 2021; Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) 2020/2021; Jarass et al. 2021; Oßenbrügge 2021).

Es zeigt sich also, dass vor dem Virus bei weitem nicht alle gleich sind – auch nicht mit Blick auf das Thema Mobilität. Stattdessen sind v.a. diejenigen noch stärker auf ihren Kiez beschränkt, für die das Quartier und die Mobilität im Nahraum ohnehin schon von größerer Bedeutung waren und die unter ungleichen und ungerechten Mobilitätsbedingungen besonders zu leiden haben. Die Dringlichkeit einer attraktiven, sozial- und menschengerechten Mobilitätsgestaltung für alle im Quartier hat sich damit während der Pandemie sogar noch verstärkt.

Die Veränderungen während der Corona-Pandemie bergen dabei sowohl Chancen als auch Risiken für zukünftige Quartiersmobilität. Bedenklich ist die Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs: Die pandemiebedingt rückläufige Nutzung könnte sich negativ auswirken auf die Rentabilität und langfristig auf das ÖPNV-Angebot für Nicht-Motorisierte. Positiv stimmen dagegen die neuen und innovativen, oft zunächst temporär umgesetzten Planungsstrategien zugunsten von Fuß- und Radverkehr, die damit eben diejenigen Gruppen unterstützen, die das Quartier und seine Infrastruktur am stärksten nutzen. Ganz im Geiste von Architekt und Stadtplaner Jan Gehl – „zuerst gestalten wir die Stadt – dann prägt sie uns“ (Gehl 2015, S. 21) – werden auf diese Weise positive Impulse gesetzt und neue Routinen entwickelt, die sich wiederum günstig auf ein sozialgerechtes und umweltverträgliches Mobilitätsverhalten im Quartier für alle auswirken.

 

 

 

Foto: © Olaf Schnur

 

Dieses Posting entstand aus einer Kooperation des AK Quartiersforschung mit der vhw-Denkwerkstatt Quartier.

 

Literatur:

Gehl, Jan (2015): Städte für Menschen. Jovis, Berlin.

Huber, Kerstin (2016): Ermittlung von Mobilitätsbedürfnissen bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Masterarbeit am Lehrstuhl für Verkehrsökologie, TU Dresden (2015). In: Verkehrsökologische Schriftenreihe 1/2016.

Jarass, Julia; Schuppan, Julia; Stark, Kerstin (2021): Wie Corona das Mobilitätsverhalten verändert und was das für den nachhaltigen Stadtverkehr bedeutet. In: Just, Tobias; Plößl, Franziska (Hrsg.). Die europäische Stadt nach Corona. Strategien für resiliente Städte und Immobilien. Springer, Wiesbanden, S. 79 – 95.

Kern, Leslie (2020): Feminist City. Between the lines, Toronto.

Oßenbrügge, Jürgen (2021): Corona und die veränderte Wahrnehmung der Stadt. In: Lohse, Ansgar W. (Hrsg.). Infektionen und Gesellschaft. Springer, Berlin, Heidelberg, S. 54-64.

Weiß, Stephanie (2017): Quartiere für Alle. Städtebauliche Strategien sozialer Inklusion in der Planung von Wohnquartieren. Springer VS, Wiesbaden.

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