SeminarBlog vom 30.10.09

Was ist „Quartier“?

In der ersten Sitzung des Seminars über Quartierforschung haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie man „Quartier“ definieren kann, oder sogar ob man „Quartier“ überhaupt definieren kann. Im Seminar wurden die TeilnehmerInnen gebeten, eine “Mental Map”, also eine kognitive Karte ihres Quartiers zu skizzieren. Aus der folgenden anregenden Diskussion kann man einige Schlussfolgerungen ziehen: Die meisten Leute identifizieren ihr Quartier mit den nächsten Umgebungen ihres Wohnorts, der der Ausgangspunkt aller Mental Maps war. Zentrale Bedeutung hat die Frage, wie man die Grenzen eines Quartiers ziehen kann. Die häufigsten Kriterien dazu umfassen Stichwörter wie Identifikation, Verkehrsachsen, Alltagsbewegungen, Versorgungs- und Dienstleistungsradius. In der Diskussion ist auch das Problem aufgetaucht, ob ein Unterschied zwischen der Vorstellung von Quartieren im Randgebiet bzw. im Zentrum einer Stadt existiert.

Um den Quartiersbegriff zu differenzieren, haben wir uns mit Henri Lefebvres Theorie der Produktion des Raums befasst. Nach Lefebvre sind Quartiere soziale Räume. Diese werden auf verschiedenen Ebenen konstruiert: die “Repräsentation des Raums” (hier: des Quartiers) ist die Ebene der Planung und Theorien – hier werden gesellschaftliche Normen festgelegt (z.B. Quartier als “QM-Gebiet”); die “Räumliche Praxis” (hier: im Quartier) ist die Ebene, auf der wir unserem Alltagsleben nachgehen – gesellschaftliche Normen werden durch diese alltägliche Praxis akzeptiert und reproduziert (z.B. indem Mutter und Kind einen Spielplatz nutzen); als “Räume der Repräsentation” (hier: im Quartier) bezeichnet Lefebvre die Ebene, auf der durch den Gebrauch des Raums seine eigentliche Bedeutung erst geschaffen wird – gesellschaftliche Normen werden hier hinterfragt und gesprengt (z.B. indem Jugendliche einen Spielplatz für ihre Zwecke “umnutzen”).

Wendet man diese “Triade” von Lefebvre auf Quartiere mit ihren vielschichtigen sozialen Verflechtungen und Planungsebenen an, erweist sie sich als ein gutes Werkzeug, um Produktions- und Konstruktionsprozesse, d.h. die Entstehung und die Dynamik von Quartierskontexten offen zu legen. Für Quartiersforscher und Quartiersplaner kann sie ein Anstoß sein, sich kritisch mit dem eigenen Handeln auseinander zu setzen. Auf der Planungsebene, die ja unser Alltagsleben gewissermaßen “programmiert”, indem sie “räumliche Fakten” schafft, sollten genügend Freiräume und Möglichkeiten geschaffen werden, damit sich “Räume der Repräsentation” herausbilden können – Räume der Entfaltung und der Aneignung. Diese Räume sind es nämlich, auf denen sich Quartiersidentitäten herausbilden und Quartiere ihr individuelles Gesicht erlangen können.

Literaturtipp:
Zeitschrift AnArchitektur, Juli 2002, Material zu: Lefèbvre, Die Produktion des Raumes.

Autor*innen: OC und JCW