SeminarBlog vom 28.01.10
Kreativquartiere – das Beispiel Oderberger Straße/Kastanienallee in Berlin
Auf der Grundlage einer inhaltlich ähnlichen, aber eher theoretischen Seminarsitzung (Teil 8 im SeminarBlog) war es unser Ziel herauszufinden, wie sich die Kreativwirtschaft in der Realität erkennen lässt, und wie die Personen, die sie prägen und in einem solchen kreativen Milieu leben, ihre Umgebung wahrnehmen und beschreiben. Dazu haben wir uns mit AnwohnerInnen der Kastanienallee/Oderberger Straße im Prenzlauer Berg vor Ort getroffen und über das Quartier diskutiert.
Zunächst erfuhren wir während eines Rundgangs mit einem Mitglied der Bürgerinitiative Oderberger Straße (BIOS) einiges zur Kiezhistorie und den damit zusammenhängenden Pfadabhängigkeiten: Zu DDR-Zeiten wurde die ganze Gegend zuerst entmietet und sollte dann abgerissen werden. Die finanziellen Mittel reichten jedoch nicht aus, um das Vorhaben zu verwirklichen. In die teilweise leer stehenden Gebäude zogen anschließend junge Leute ein – illegal, aber geduldet – die sich im weitesten Sinne als Künstler oder Lebenskünstler verstanden. Ein „kreatives Potenzial“ war dementsprechend schon damals vorhanden. Nach der Wende wurde das Gebiet großflächig modernisiert, Kriegslücken geschlossen und neue Bepflanzungen angelegt. Parallel dazu zogen zahlreiche Cafés und Restaurants in die Gegend, die Mieten stiegen und das Gebiet wurde zusehends zum „Szeneviertel“.
Beim Quartiersrundgang fiel die Vielfalt an kreativen Geschäftsideen auf, die von einem Immobilienmakler, der Immobilien wie Schuhe in Schaufensterauslage in seinem Geschäft anpreist, über Designerläden, einen Laden für Kunstzubehör, Galerien, bis hin zu den außergewöhnlichen Namen der Geschäfte, wie „Kauf dich glücklich“, reichen. Auch Werbeagenturen, Architekturbüros, auf bestimmte Milieus spezialisierte Buchläden etc. sind zu entdecken. Es hat den Anschein, dass vor allem das „Auffallen“ und die Originalität wichtige Aspekte der hier vorzufindenden lokalen Ökonomie darstellen.
Das Quartier um Kastanienallee und Oderberger Straße ist weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Als „angesagte Adresse“ zieht die Kastanienallee inzwischen auch Besserverdiener an, die häufig auch „kreativen Milieus“ zuzurechnen sind, u.a. aus der EU und den G8-Staaten, anderen Regionen in Deutschland oder gebürtige Berliner. Kurz nach der Wende wurden die Mieten z. T. verdoppelt, woraufhin schon einige AnwohnerInnen in andere Bezirke umzogen. Wer schon lange dort wohnt und sich gegen die steigenden Mieten zur Wehr setzten kann, verbleibt im Gebiet. Wer das nicht kann, wird mitunter verdrängt. Die Wohnungen werden nach Auszug der AnwohnerInnen oftmals in Eigentumswohnungen umgewandelt.
Im Anschluss an den Rundgang trafen wir uns mit vier weiteren Bewohnerinnen und Bewohnern zum Gespräch, die man ohne weiteres in die Florida’schen „kreativen Milieus“ einordnen könnte (Architekten, Künstler, Modedesigner, etc.). Sie berichteten uns vom Leben und Arbeiten in einem/ihrem kreativen Umfeld. Auf die Frage, warum sie denn ausgerechnet hierher gezogen seien, antworteten alle Befragten – trotz ihres differierenden Hintergrunds und unterschiedlicher Wohndauer – einstimmig: „Weil ich mich hier von Anfang an gleich wohl gefühlt habe!“ Dies verdeutlicht, dass die Entscheidung, in die Kastanienallee/Oderberger Straße zu ziehen, häufig eine emotionale, ggf. sogar wenig systematische, weil nicht im Vergleich mit anderen Bezirken getroffene, war.
Die hohe Wohnzufriedenheit ist sicherlich auf eine Mischung aus Prestige und faktischer Lebensqualität zurückzuführen. In den Cafés höre man den Gesprächen der Projektmanager, Schauspieler und derer, die es noch werden wollen zu, während man an seinem Laptop seine eigene Arbeit erledige. Arbeit und Wohnen, Privatheit und Öffentlichkeit sind im Quartier durchaus fließende Kategorien. Neue Mode, der der Bürgersteig als Laufsteg dient, wird stolz zur Schau gestellt. Es ist wahrscheinlich dieses gewisse Flair, von dem die Bewohner berichten und welches das Image ausmacht. Das in bestimmten Kreisen besonders wichtige Image („Castingallee“) spielte hinsichtlich der Wohnstandortentscheidung nach Aussage der Befragten jedoch keine Rolle. Man spüre die internationale Popularität der Straße nur, wenn im Sommer teilweise mehr Touristen die Straße bevölkern als Ansässige und finde das aber keineswegs störend.
Als ein Hauptaspekt der Wohnzufriedenheit stellte sich jedoch das gewachsene nachbarschaftliche Sozialkapital im Kiez heraus. Zumindest rund um die Bürgerinitiative konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die AnwohnerInnen eine kleine Gemeinschaft mit eigenen, alternativen Ideen auch hinsichtlich der Quartiersentwicklung bilden. Laut Aussagen der AnwohnerInnen herrscht eine sehr tolerante, warmherzige Stimmung im Quartier, das einen öffentlichen Ort der Begegnung darstelle. Zuzügler würden im Kiez großzügig aufgenommen und hinsichtlich der eigenen Toleranz schätzen sich die AnwohnerInnen als positiv und offen gegenüber Migranten, Homosexualität oder alternativen Lebensformen ein. Dies kann auch für die Zuzügler der entscheidende Attraktivitätsfaktor sein. Die Gemeinschaft drückt sich auch dadurch aus, dass sich die meisten beim Namen kennen. Unter den Kleinunternehmern oder Freelancern bestehen darüber hinaus flexible Arbeitsnetzwerke, ohne die unter Umständen das Überleben der Betriebe gefährdet wäre. Davon abgesehen gehört Projektarbeit in Netzwerken für viele zum obligatorischen Tagesgeschäft. Eine weitere Besonderheit, die Arbeitsverhältnisse der Anwohner betreffend, sind gemeinschaftliche Projektarbeiten sowie die Arbeit im „home office“.
Fazit: Dass dieses Quartier ein kreatives Milieu beherbergt und für dieses auch besondere quartiersspezifische Ressourcen bereithält, erschien bei unserem Besuch auf den ersten Blick als evident. Natürlich haben wir im Rahmen unseres Kiezgesprächs nur einen selektiven Ausschnitt der „Quartiersstory“ gehört. Angesichts der massiven Aufwertungen, die rings um das Quartier insbesondere im direkt angrenzenden Nachbarbezirk Mitte zu sehen sind (z.B. Projekt Marthashof), erscheint das soziokulturelle, kreative Idyll jedoch als gefährdet. Insgesamt hatte man den Eindruck, dass die Perspektive der AnwohnerInnen beinahe „überpositiv“ ist – der perfekte Kiez? Letztlich kann man aber auch davon ausgehen, dass der hohe Betrag an lokalem Sozialkapital im Quartier auch ein Potenzial ist, das gegen massive Aufwertungen schützt und eine Entwicklung im Sinne eines bewohnergetragenen „incumbent upgrading“ fördert. Dass das zuständige Bezirksamt nach Aussagen der AnwohnerInnen ausgesprochen offen und kooperativ ist, ist eine weitere positive Rahmenbedingung, die nicht zu unterschätzen ist.
Autor*innen: TL, CD und NK