SeminarBlog vom 13.01.10
Quartiere und Grassroots – von Kommunitarismus, New Urbanism und dem Modell Christiania
Kommunitarismus
Die Entstehung der Idee des Kommunitarismus war eine Reaktion auf die Veröffentlichung der Schrift „Theory of Justice“ von John Rawls im Jahr 1971, das als „Flagschiff des liberalen Denkens” gilt. Die Befürchtung, der Bürger könne im Zuge der Industrialisierung, Globalisierung und des Liberalismus seine Moral und Religiosität zugunsten eines Erfolgs- und Bereicherungsdenkens abstreifen, führte zu der Forderung, der Bürger müsse sich auf seine Werte, seine Moral und seine Solidarität in einer (Kleinst-)Gruppe zurückbesinnen. Die Hauptvertreter Alasdair MacIntyre, Michael Walzer, Benjamin Barber, Charles Taylor und Amitai Etzioni sahen den Kommunitarismus als einen neuen Weg zwischen Marktliberalismus und Planwirtschaft mit dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit und der Schaffung eines „guten Staatsbürgers“. Die Rechte des sich in der Gemeinschaft engagierenden Individuums stehen nicht über den Verpflichtungen für die Gemeinschaft.
Nach Etzioni sind folgende fünf Punkte für eine funktionierende Gesellschaft notwendig:
- ein Netz herzlicher Beziehungen
- ein einfacher und offener Zugang
- gegenseitiges Kommunizieren und Verstehen
- Dialog und Feedback
- die gemeinsame Erinnerung/ eine geteilte Geschichte
In Europa hielt die kommunitaristische Idee als „Moderner Dritter Weg“ innerhalb der Sozialdemokratie Ende der 90er Jahre Einzug und galt als Versöhnung der Sozialdemokratie mit dem Liberalismus. Die Strömung hatte hier also ein sehr politisches und ökonomisches Gesicht angenommen.
Die folgenden Beispiele sollen zeigen inwieweit sich die Idee des Kommunitarismus innerhalb der Stadtplanung umgesetzt hat. Und obwohl sich die beiden städtebaulichen und auch ideologisch umgesetzten Beispiele stark voneinander unterscheiden und sich nicht direkt auf den Kommunitarismus beziehen, kann man doch einige Parallelen untereinander als auch zum Kommunitarismus selbst ziehen.
New Urbanism
New Urbanism hat seine Wurzeln in der Reaktion gegen den „urban sprawl“ in Amerika Ende der 1980er. Er wurde im Oktober 1993 durch die Erstellung von Charta of New Urbanism auf dem ersten Kongress der CNU (Congress for New Urbanism) in Alexandria, Virginia kodifiziert. Führende Persönlichkeiten waren das Ehepaar Andreas Duany und Elisabeth Plater Zyberk Der CNU wird von einem „board of directors“ geleitet. Architekten, Stadtplaner, gesellschaftliche Aktivisten, Bauunternehmer, Politiker, Vertreter der behutsamen Stadterneuerung, Investorenvertreter, Umweltaktivisten und Vertreter von Bürgerinitiativen kommen zusammen und diskutieren aktuelle urbane Probleme. 2005 hatte der CNU ungefähr 2020 Mitglieder, diese planten und verwirklichten bisher insgesamt 650 Projekte.
Der CNU fordert die Abkehr von der autogerechten Planung und, in Anlehnung an die Gartenstadt-Ideen, den Bau von Siedlungen, deren Struktur an eine gewachsene Kleinstadt mit einem verdichteten Zentrum erinnert. Die Mischung unterschiedlicher Nutzungen soll dabei ebenso beachtet werden, wie eine fußgängergerechte Planung und der Aufbau von öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Stadt soll Menschen aus allen sozialen Schichten eine gemeinsame Identität geben. Dazu dient vor allem die Architektur, die mit den jeweiligen lokalen Traditionen verbunden sein soll.
Beispiel von New Urbanism in den USA: Seaside Florida
1979 wurde Seaside – ein Musterbeispiel des New Urbanism – von Robert Davis gegründet, der Bauherr, Developer und Besitzer des Areals zugleich war. Der Masterplan wurde von zwei der wichtigsten New Urbanism-Architekten, Andrés Duany und Elizabeth Plater-Zyberk entworfen. Als dominante Bauform wurden Einfamilienhäuser vorgesehen, die teilweise als selbstgenutztes Eigentum fungieren, aber auch vermietet werden. Die ganze Siedlung wurde konsequent nach den Prinzipien des New Urbanism gebaut, d.h. relativ hohe Dichten, gemischte Nutzung, pseudohistorische Architektur (angelehnt an die Architektur der US-Südstaaten bis 1940). Heute werden viele Häuser auch als Sommersitze verwendet, was zu einer Kombination von ständigen Bewohnern und Urlaubern führt. Wir können Seaside auch als Musterbeispiel einer Top-Down-Planung betrachten. Die Hauptarchitekten haben den Rahmenplan und öffentliche Gebäude realisiert, die Einzelgebäude konnten im Rahmen strikter Vorgaben ansatzweise selbst gestaltet werden. Kritik richtet sich deshalb vor allem an die architektonische Formensprache, die als rückwärtsgewandt, starr und unkreativ gilt. Außerdem wird der Mangel an sozioökonomischer Vielfalt (zu teuer, nicht für alle erreichbar) sowie die strikten, exkludierenden baulichen und sozialen Regulierungen kritisiert. Weitere bekannte New Urbanism-Quartiere sind Celebration in Florida (Walt Disney Company) oder in Deutschland das Quartier Kirchsteigfeld in Potsdam.
Das etwas andere Beispiel: CHRISTIANIA
Christiania ist eine alternative Wohnsiedlung in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen, die seit 1971 besteht. Sie umfasst ein 34 ha großes Gebiet im Stadtteil Christianshavn. Das ehemalige Militärgelände liegt auf den historischen Wallanlagen der Stadt, etwa zehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Die Bewohner betrachten sich selbst als in einer Freistadt lebend, die sich unabhängig von den staatlichen Behörden verwaltet. Aus Sicht der dänischen Behörden handelt es sich um eine staatlich geduldete autonome Kommune.
Nachdem die ursprüngliche Besetzung des Geländes durch Obdachlose, Hausbesetzer, Studenten, Normabweicher und andere Randgruppen noch sehr unkoordiniert und größtenteils ohne politische Motivation schien, bildete sich schnell eine Gemeinschaft heraus die in einigen wenigen Zielen eine Übereinstimmung fand. So traf sich die bis Ende 1971 schon auf drei – bis vierhundert Menschen angewachsene Gruppe zu gemeinsamen Versammlungen und es wurden Arbeitsgruppen zur Lösung kollektiver Probleme gebildet. Die gemeinsamen (nun stark politisch motivierten) Ziele wurden daraufhin in einer Erklärung der Christianiter formuliert: „ Christianias erklärtes Ziel ist der Aufbau einer sich selbst verwaltenden Gesellschaft, in der sich jeder frei in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft entfalten kann. Diese Gesellschaft soll ökonomisch unabhängig sein. Ziel der gemeinsamen Bestrebungen ist es, beispielgebend zu zeigen, daß physische und psychische Verkrüppelung vermeidbar ist“. Ebenso rasch kam es zum Kontakt mit den Behörden, wobei v.a. die Bezahlung von Wasser und Strom im Blickfeld stand.
Damit begann ein in großen Teilen beispielloses Projekt, das schon kurz nach seinem Entstehen den Status eines sozialen Experiments verliehen bekam, seit beinahe vierzig Jahren in zahllosen Gerichtsverfahren um seine Existenz kämpfen muss und Repressionen, Räumungsbestrebungen sowie Verleumdung und Diskriminierung von Staatsseite ausgesetzt ist. In vielen Projekten und Veranstaltungen, und einer Alternativen Form des Zusammenlebens (v.a. in den Anfangsjahren) hat sich Christiania als wertvolles menschliches und soziales Experiment bewährt.
Mit dieser Lebensform, außerhalb der auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und wachsendem materiellen Verbrauch begründeten Gesellschaft wie wir sie kennen, gibt (oder gab?) Christiania ein Beispiel für eine höhere Bewertung gewisser nicht-ökonomischer Lebensqualität wie menschliche Gemeinschaft, bedingungslose Akzeptanz Andersartiger, lokale Demokratie ohne Führer und Führung, und sie – die Christianiter – versuchen ein Leben zu realisieren, dass auf niedrigem materiellen Niveau, Nullwachstum, niedrigem Energieverbrauch, Rücksichtnahme auf die Ökologie und Wiederverwertung von Materialien basiert. Diese Form von Gemeinschaft ermöglicht es den „sozialen Verlieren“ und den schwachen Gesellschaftsmitgliedern ein sinnvolles und aktives Leben, zu ihren eigenen Bedingungen zu führen, das in der kapitalistischen, neoliberalen Stadt oder in traditionellen Institutionen unmöglich wäre.
Der Vergleich zwischen extrem divergierenden Quartieren wie Seaside und Christiania zeigt, wie eine Idee von “Gemeinschaft” sich ganz unterschiedlich auf der Quartiersebene niederschlagen kann. Bezieht man diese baulichen Repräsentationen von “Community” auf kommunitaristische Theorieansätze, so wird darin deren gesamtes, breites Spektrum von “konservativ” bis “progressiv”, von kontrollierter Sicherheit und Überwachung bis zu einer Art “graswurzeldemokratischen Orientierung” deutlich.
Autor*innen: SL, KW, FC und PH