SeminarBlog vom 09.11.09

Gartenstadt „Neu-Tempelhof“ in Berlin: Idealquartier oder Pseudoidyll?

Das Modell der Gartenstadt wurde bekanntlich 1898 vom Briten Ebenezer Howard konzipiert und sah die Neugründung von grünen und „gesünderen“ Mittelstädten im Umland einer Großstadt vor. Die Vorzüge des Landes (Natur, frische Luft, Platz) sollten mit den Annehmlichkeiten der Stadt (Kultur- und Bildungsangebote, Arbeit) verbunden werden.

Auch im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg ist in Anlehnung an Howards Konzept ein Gartenstadtquartier entstanden: die Gartenstadt Neu-Tempelhof. Nachdem das Tempelhofer Feld bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für Militärübungen, aber auch zur Naherholung genutzt wurde, erwarb die Gemeinde Tempelhof 1910 eine Fläche von 145 ha zur Bebauung. Ursprünglich geplant war eine sehr dichte, fünfgeschossige Bebauung, wie sie am Tempelhofer Damm und am Platz der Luftbrücke umgesetzt wurde. Nach dem ersten Weltkrieg änderte sich jedoch die städtebauliche Anschauung. So entstanden nach den Entwürfen von Friedrich Bräuning und dem Engagement des Staatssekretärs Prof. Dr. Adolf Scheidt letztendlich 1.000 Eigenheime. Es handelt sich dabei primär um Einfamilienhäuser und Reihenhäuser mit großen Gartengrundstücken, umgeben von öffentlichen Parkanlagen und schmalen Straßen. Heute liegt das denkmalgeschützte Quartier innenstadtnah, quasi im Hinterland des beliebten Kreuzberger Bergmannkiezes, aber dennoch versteckt direkt gegenüber des kürzlich geschlossenen Flughafens Tempelhof.

Im Rahmen des Oberseminars „ Neighbourhood Trek: Quartiere neu denken“ am Geographischen Institut der Humboldt- Universität zu Berlin führten wir eine Befragung sowohl unter den Anwohnern von Neu-Tempelhof, als auch unter den Kommilitonen, die an einem zweistündigen Rundgang in der Gartenstadt anwesend waren, durch. Die Stichprobengröße unter den Anwohnern betrug 21, bei der Kommilitonen-Umfrage nahmen 26 Studenten teil. Unser Ziel war es, die Meinung und das Empfinden von innen (der Bewohner) mit der Bewertung von außen (den Studenten) zu vergleichen. Eine Fragestellung hierfür lautete: „Ist die Gartenstadtsiedlung Neu-Tempelhof ein Idealquartier?“ Die mit dem Quartier konfrontierten Studenten machten einige interessante Angaben:

  • Obwohl das Quartier sehr zentral und verkehrsgünstig gelegen ist, kannten 85 % der Befragten das Gartenstadtquartier Neu-Tempelhof vor der Exkursion nicht.
  • 92 % der Studenten hatten das Gefühl in eine „andere Welt“ zu kommen, wenn man die Gartenstadt vom Tempelhofer Damm kommend, betritt.
  • Gleichzeitig machte diese „andere Welt“ im Zentrum der Metropole skeptisch: 65 % der befragten Studenten würden nicht in Neu-Tempelhof wohnen wollen. Begründet wurde dies durch das Gefühl in eine Parallelwelt gekommen zu sein, in ein zurückgezogenes, abgeschottetes Gebiet, das abweisend, spießig und steril wirkt, in dem man sich der Kontrolle der Nachbarn nicht entziehen könne. Nicht zuletzt sei die Wohnlage zu teuer und die Versorgungs- und Ausgehmöglichkeiten nicht zufrieden stellend. Die restlichen 35 % könnten sich gerade zum Zeitpunkt der Familiengründung vorstellen, in die Gartenstadt zu ziehen. Die ruhige und grüne Lage habe etwas Gemütliches und sei ideal für Kinder. Und trotzdem wohne man zentral.

Die Wirkung, die das Quartier auf die Studenten hatte, spiegelte sich auch in deren Einschätzungen der Altersstruktur wider: Sie haben den Eindruck, dass Rentner mit 30 % am stärksten vertreten sind, dicht gefolgt von jungen Familien (24 %) und Familien mit älteren Kindern (23 %). Bei der Einschätzung des Rentneranteils variierten die Angaben am stärksten von 5 % bis zu 50 %. Die Studenten unterscheiden sich in ihren spontanen Angaben im Übrigen kaum von denen der Anwohner, die ja eher als „Experten“ für den Kiez gelten können. Die Einschätzungen der Befragten lassen sich durch amtliche Daten zumindest näherungsweise bestätigen.

Die Versorgungslage und das kulturelle Angebot wurden von den Studenten schlechter bewertet, als von den Anwohnern der Gartenstadt: Die Anwohner bewerteten zum größten Teil ihre Versorgungssituation als akzeptabel mit starker Tendenz Richtung „sehr zufrieden“. So gaben alle Befragten an, zu Fuß einkaufen gehen zu können oder nur kurze Distanzen mit dem Auto zurück legen zu müssen. Die Studenten hatten das Gefühl, nur eine durchschnittliche akzeptable Versorgungslage vor Ort zu haben, mit keinerlei Tendenz in eine sehr gute Bewertung. Bei der Einschätzung des kulturellen Angebots gingen die Eindrücke der Anwohner und der Studenten noch mehr auseinander: Während unter den Anwohnern eine knappe Mehrheit das Kulturangebot als zufriedenstellend bewerteten, gab eine absolute Mehrheit der Studenten an, das Kulturangebot sei schlecht.

Das Gefühl der Studenten in eine andere Welt gekommen zu sein, wird auch von den Anwohnern gewissermaßen empfunden: 95 % der Befragten gaben an, dass es ein „Drinnen“ und ein „Draußen“ gebe, dass also infrastrukturelle Trennlinien, wie der Tempelhofer Damm oder die S-Bahntrasse auch in den Köpfen bzw. der Identifikation mit dem Wohnumfeld Trennlinien geschaffen haben.

Beide Befragungsgruppen schätzen die Wohnqualität in Neu-Tempelhof höher ein als in anderen Stadtteilen (95 % der Anwohner und 73 % der Studenten). Auch bei der Bewertung der nachbarschaftlichen Bindung hatten die Anwohner und die Studenten die ähnliche Ansicht: 71 % bzw. 65 % glauben, dass es in diesem Umfeld ein stärkeres Zusammenhaltsgefühl gibt. Nicht zuletzt die zwischen den Parzellen verlaufenden engen „Dungwege“ gelten als Zonen, in denen sich nachbarschaftliches Sozialkapital verstärkt herausbilden kann.

Die etwas pauschale und provokante Ausgangsfragestellung ergab ein klares Bild: 100 % der Anwohner bezeichneten den Aufbau der Gartenstadtsiedlung als ideal. Bei den Studenten waren die Meinungen, ob Neu-Tempelhof ein „Idealquartier“ oder eine Art „Pseudoidyll“ ist, nahezu gleich verteilt: 46 % der Studenten bewerteten das Gebiet als „Idealquartier“, 42 % als „Pseudoidyll“, 12 % konnten sich keiner der Beurteilungen zuordnen.

Erwartungsgemäß hat diese kleine nicht-repräsentative Umfrage im Rahmen unseres Seminars gezeigt, dass Quartiersbewertungen immer lebenszyklus- und lebensstilspezifisch sind und darüber hinaus persönliche Bindungen zum Quartier (Innen- vs. Außenperspektive) eine große Rolle spielen. Auch die Dichotomien „Drinnen“ und „Draußen“, „Privatheit“ und „Öffentlichkeit“ sowie „Freiheit“ und „Kontrolle“ sind in Quartieren dieser Art, die städtebaulich eine gewisse Abgeschlossenheit suggerieren, offensichtlich wichtige Themen.

Autor*innen: LK und AA